Neue Vorwürfe gegen privates Seniorenwohnzentrum Candis:
“Hier in Deutschland habe ich sowas noch nicht gesehen”

Vor rund 14 Tagen veröffentlichte Recht auf Stadt einen Widerruf, indem die Initiative offiziell und hoch und heilig erklärte, in der Gegenwart der zwei Stunden ihrer Flugblattverteilung am 29.04.2017 keine Missstände für das private Seniorenwohnzentrum Candis belegen zu können. Während es für davor und danach Belege en masse gibt, war offensichtlich diese zwei Stunden die Welt in Ordnung. Das zumindest verkündete das Regensburger Landgericht unter Richterin Thaller per Urteil der Welt. Leider scheinen diese zwei Stunden die große Ausnahme gewesen zu sein, wie neue Interviews mit Pflegekräften aus dem Candis nahelegen.

Straßenseite des Pflegeheims Candis

Hygiene

Wir befragten die Pflegekräfte in zwei langen Interviews. Zu ihrem Schutz werden wir sie X, Y und Z nennen. X und Z wurden getrennt voneinander interviewt. Der erste Komplex der Interviews betraf das Thema Hygiene.

Nebenbei: In Deutschland herrscht angeblich Demokratie, hier gelte die Meinungs-, Rede- und Informationsfreiheit. Dies ist ein Gerücht. Der komplette Arbeitsbereich ist eine Autokratie. Mitarbeiter*innen, die über Interna berichten, können und werden strafrechtlich verfolgt, Medien (oder Initiativen wie Recht auf Stadt), welche Missstände veröffentlichen, mit Unterlassungsklagen bis hin zur Existenzvernichtung bedroht. Die für die Gesellschaft so wichtigen Whistleblower sollen zwar per Gesetz besser geschützt werden. Aber was bisher über den Gesetzentwurf bekannt wurde, offenbart, dass es sich wohl wieder nur um eine Mogelpackung handelt. Wie immer, wenn es um Verbesserungen von Ausgebeuteten geht, siehe Gesetz zur „Mietpreisbremse“.

Keine Handschuhe: „Wir müssen auch wirtschaftlich arbeiten!“

Die examinierte Pflegekraft X äußerst sich zur Hygiene im Seniorenwohnzentrum Candis wie folgt:

X: Von Hygiene brauchen wir nicht sprechen. Das ist ein großes Fremdwort in diesem Haus. Bei der Einarbeitung bin ich von unserem Praxisanleiter eingearbeitet worden. Dieser Praxisanleiter ist zugleich auch stellvertretender Wohnbereichsleiter und auch Hygienebeauftragter. Der erste Schock, was ich erlebt habe, war, er hat ohne Handschuh gearbeitet. Da hat sich eine Frau übergeben, und er hat dann das Ausgebrochene ohne Handschuh aufgeräumt. Ich habe gedacht, ich bin im falschen Film. Das ist ja nicht nur das Erbrochene, sondern auch Stuhlgang. Da werden Genitalbereiche ohne Handschuh gewaschen. Das muss man sich mal vorstellen! Und das in dieser Pandemiezeit!

X wies ihre Helfer*innen nach diesem Erlebnis strikt an, nie ohne Handschuhe zu arbeiten. Viele Bewohner*innen seien krank, hätten MRSA, Durchfälle.

X: Er hat dann gefragt: Was soll das? Da ist ja schon wieder die Packung leer! Da haben sie [die Helfer, RaS] gesagt, die X habe das verlangt. Er: Nein, also bitte, mit den Handschuhen sparsam sein! Wir müssen auch wirtschaftlich arbeiten!

Die Pflegekraft Y ergänzt, wenn Handschuhe gekauft werden, dann sind sie oft von kaum brauchbarer Qualität:

Y: Handschuhe waren irgendwo falsch gelagert. Die waren so geknitscht, von Hitze, Kälte oder Wasser, du hast nicht geschafft, sie auseinanderzuziehen.

Candis durch Abnutzung nahezu durchsichtiges Handtuch

Laut Pflegekräfte ein Handtuch aus dem Candis. Durch den häufigen Gebrauch ist es stellenweise bereits durchsichtig.

Handtücher statt Einlagen: „Katastrophe eigentlich. Aber was soll man machen?“

Ein weiteres Problem sind offensichtlich ständig fehlende Inkontinenzmaterialien. Was uns die Pflegekräfte dazu erzählten, war für uns mit am erschütterndsten. Die Pflegekraft X, die inzwischen kündigte, berichtet von Erfahrungen in ihrer Anfangszeit.

X: Einlagen. Es fehlen Einlagen. Na, vielleicht kommt morgen Lieferung. Am nächsten Tag kommt auch keine. Was ist das für ein Laden? Wie soll ich die Bewohner jetzt versorgen? Gestern war nichts, heute auch nichts. Wann kommt denn die Lieferung? Erst nächste Woche. Wie bitte? Erst nächste Woche?! Wir haben Freitag. Wann nächste Woche? Mittwoch. 6 Tage! Was mache ich jetzt? Ich stehe da, ich bin neu. Schicke den Helfer runter auf Erdgeschoss. Irgendwie muss man ja klar kommen. Kommt nach oben, die haben nichts. Geh nach oben 2 Stock. Die haben auch nichts. Ich war schon schockiert, ich war wütend. Na gut, wenn kein Inkontinenzmaterial da, dann nehme ich mir die Erlaubnis und schneide mir die Badetücher und werde so die Bewohner wickeln. Werde mit Sicherheit mit Einrichtungsleitung darüber sprechen, denn ich habe sowas nicht gesehen. Hier in Deutschland habe ich sowas noch nicht gesehen.

Selbst Unterwäsche für die Inkontinenzeinlagen scheint Mangelware zu sein. Üblicherweise werden Inkontinenzeinlagen von spezieller Plastikunterwäsche oder Netzhöschen am Verrutschen gehindert. Nicht so im Candis.

X: Welche Plastikunterwäsche? Wir haben kein Plastik. Nicht einmal Unterhosen. Nicht einmal Netzhosen. Netzhöschen sind verboten. Überall in Pflegeheim ist Hygiene A und O, vor allem die Netzhöschen. Weil das ja öfter gewechselt werden muss. Im Candis ist es verboten. Aber auch die private Unterwäsche ist mangelhaft. Viele waren ohne Unterhose. Musste ich in der Nacht eine Hose anziehen, weil das muss ja irgendwie halten.

Auf unsere Nachfrage, dass Handtücher auch teuer seien, wurden uns von Pflegekraft Y Beispiele von Candis-Handtüchern gezeigt. Vom vielen Gebrauch waren sie fast durchsichtig.

Y: Solche Handtücher. Hälfte von dieser Wäsche kommt von Hotels oder Pension, abgekauft für billiges Geld. Das war‘s.

Die dritte Pflegekraft Z, eine Auszubildende im 3 Jahr, bekennt:

Z: Ich habe auch schon Handtücher zerschnitten, weil keine Waschlappen da waren. Ich muss die Leute saubermachen. Handtücher, die ausschauen, als ob nur noch der innere Stoff da wäre und das Äußere ist schon alles weggerubbelt, teilweise durchsichtig.

Jedoch seien nicht alle Handtücher so beschaffen. Von Pflegekraft X wollten wir wissen, ob der Mangel an Inkontinenzmitteln am Anfang ihrer Arbeitsaufnahme die Ausnahme war.

X: Nein, nein! Das war Regelbetrieb. Es gibt immer zuwenig.

Y: Habe heute gesprochen mit Kollegen, haben wieder nichts.

Auch Z bestätigt den ständigen Mangel an Inkontinenzmaterial:

Z: Es ist immer wieder, dass du keine Einlagen hast. Der Notfallschrank ist zugesperrt, was eigentlich verboten ist. Die Fachkraft hat den Schlüssel. Aber es ist so oft vorgekommen, dass nichts da war. Wenn die Frau da gerade nackert im Bett drin liegt und ich da eine frische Einlage brauch, dann geht man halt zum Nächsten und nimmt es von da. Ist nicht korrekt, aber ich brauch Arbeitsmaterial. Wenn überhaupt nichts mehr da ist, dann kann man schon mal Handtücher reinlegen. Katastrophe eigentlich. Aber was soll man machen? Mit was soll man es aufsaugen?

Schließlich noch die Frage, warum es immer zu wenige Einlagen sind.

X: Angenommen für meine Station, 30 Personen, brauche ich 300 Inkos. Wenn Inkontinenzmaterial geliefert wird, müssen wir das dann austeilen. Da gibt es dann eine Liste, zeig mal.

Y: (zeigt Liste) Offizielle Version, und das mit Schreibschrift ist das, was wir bekommen.

X: Bestellt wird das, aber ausgegeben wird das.

Y: Für jeden Bewohner mindestens 20 % weniger, als das, was bestellt ist.

Wir sehen, dass für bestimmte Bewohner*innen beispielsweise 7 bzw. 14 Einlagen bestellt wurden, aber laut handschriftlichem Vermerk der Pflegekraft nur 5 bzw. 10 tatsächlich auf der Station landeten. Zu unserer Überraschung erzählen uns die Pflegekräfte, dass die Einlagen von den Bewohner*innen selbst bezahlt werden müssen, also zusätzlich zum Pflegesatz.

X: Das muss man verstehen, dieses Inkomaterial zahlen die Bewohner vom eigenem Geld. Das muss nicht das Haus bezahlen und das zahlt auch nicht die Pflegekasse, auch nicht die Gesundheitskasse, das zahlen die Bewohner. So. Die Inkos müssen, wenn der Bewohner diese Einlagen braucht, sagen wir mal 14 Gelbe für die ganze Woche, dann diese 14 Gelben müssen auch bei diesem Bewohner sein und nicht 8 und nicht 7. Er hat dafür bezahlt.

Y: Das ist Diebstahl.1

Z führt aus:

Z: Wenn es darüber geht, ihr Budget erfüllt ist, muss der Rest übernommen werden vom Haus.

Es ist aber nicht nur zu wenig Inkontinenzmaterial da, sondern oft auch nur das Billigste.

Y: Einlagen kosten unterschiedlich. Am besten diese billigen, kleineren. Normalerweise in der Nacht soll Kapazität eineinhalb Liter sein. Aber lieber die Einlage für 80 Cent und Kapazität von Flüssigkeit ist nur 500 Milliliter. Ab 4 Uhr morgens liegt Bewohner in voller Pisse, bis 7, 8, 9 Uhr. Dann ist es kein Wunder, wenn Dekubitus ist da.

Laut Y ist im Candis ständig „Sparprogramm“ angesagt. Das gehe auf Kosten der Bewohner*innen, aber natürlich auch auf Kosten der Pflegekräfte, die den Mangel mit Improvisation oder Zusatzarbeit ausgleichen müssen.

Candis provisorische Einlage mit Handtuch und Folie

Ein von einer Pflegekraft im Candis aufgenommenes Bild. Es zeigt ein zusammengewickeltes Handtuch, das mangels regulärem Inkontinenzmaterials mit Verbandsfolie am Po eines*r Bewohners*in provisorisch befestigt wurde

Personalmangel

Besonders verärgert ist Y darüber, dass die Pflegekräfte Materialmangel durch noch mehr Arbeitseinsatz ausgleichen sollen:

Y: Wirtschaftlich! Wir sollen öfter Toilettengänge machen! Dann sagen Sie mir mal: 34 Bewohner auf der Etage und 3 Leute! 3 Mitarbeiter! Wie soll das gehen?

Bewohner*innen bekommen kein Frühstück

Der Personalmangel wird am Beispiel der morgendlichen Pflege geschildert:

Y: Auf jeder Etage gibt es eine WDL [Wohnbereichsleitung, RaS]. Die hat 2 Mitarbeiter. WDL macht Bürodienste, Blablablablabla, macht maximal 4 bis 5 Bewohner. Das heißt, 30 Bewohner für 2 Personen, für jeden 15. Jeder Bewohner sollte Frühstück haben bis spätestens halbzehn. Wie kann ich 15 Leute von 20 vor 7 bis halbzehn fertig machen? Rechnen Sie! Rechnen Sie „Unfälle“ mit ein. Unfälle bedeutet Durchfall, also Duschen. Es gibt Bewohner, die brauchen 40 Minuten. Was machen die anderen? Warten auf Frühstück. Frühstück um halb 11 oder halb 12? Mittag ist um halb 12! Im Durchschnitt dreimal pro Woche bleiben ein paar Bewohner ohne Frühstück.

Keine Umlagerung nachts

Und wie ist die Situation nachts?

Y: In der Nacht ist es noch schlimmer. Ist eine Person für ganze Etage.

X: Moment, in der Nacht ist es total easy. Da ist zwar nur eine Person für den ganzen Stock da, 35 Menschen. Aber die Einlagen werden nur einmal gewechselt kurz vor Schichtübergabe in der Früh. Und gelagert werden die auch nicht. Normalerweise muss ein Bettlägeriger alle 2 Stunden gelagert werden. Das müssen wir dann auch dokumentieren, rechts, links, Rücken. Man merkt sich am Anfang seine Position, z.B. rechts. Er bleibt so die ganze Nacht liegen. Man schreibt, er war rechts, dann nach zwei Stunden um 12 Uhr links, um 2 rechts um 4 links und um 6 Uhr wieder rechts. Dann brauche ich ihn gar nicht lagern.

Y: (zeigt Bild): Und das ist was danach kommt, wenn Menschen sind nicht gelagert. Unterschenkel und Oberschenkel von Poposeite.

X: (betrachtet Bild) Das kommt von falscher Lagerung, aber auch von Inkontinenzmangel. Dekubitus. Das ist ja schon Nekrose.

Y: (zeigt weiteres Bild): Das sind Zustände, wenn man als Frühdienst kommt. Das ist Stuhlgang, weil jemand hat in der Nacht nichts gemacht.

X: Bewohnerin hat dann selber mit den Fingern, weil das stört ja.

Y: In der Früh 20 Minuten länger, duschen, Bettwäsche wechseln.

Liegt das daran, dass die Nachtschicht einfach nur faul ist?

X: Nein, die sind nicht faul. Die sind am Anfang sehr fleißig. Bloß die sehen, dass sie die einzigen sind, die fleißig sind. Andere machen sich bequem und legen sich hin zum Schlafen. Die werden sogar erwischt. Und trotzdem arbeiten die.

Candis offene Wunden an Po und Oberschenkel

Offene Wunden an Po und Oberschenkel eines*r Bewohners*in des Candis, die laut Pflegekräfte die Folge von zu wenig Umlagerungen und unzureichendem Inkontinenzmaterialen sind.

Extrem hohe Fluktuation bei Pflegekräften

Viele Pflegekräfte können die Situation offenbar nicht mir ihrem Gewissen vereinbaren. Statt sich den Verhältnissen im Candis anzupassen, kündigen sie lieber. Die Fluktuation scheint extrem hoch zu sein, was natürlich den Mangel an Pflegekräften zusätzlich verschärft, da immer wieder neue Mitarbeiter*innen eingelernt werden müssen.

Y: In dieser Zeit, wo ich dort arbeite, 2,5 Jahre, wissen Sie, wieviele Mitarbeiter habe ich gesehen kommen und gehen? 48!

Z berichtet:

Z: Eine neue Pflegefachkraft hat gerade angefangen. Am Wochenende habe ich mit ihr zusammengearbeitet. Sagt sie zu mir, sie bleibe hier nicht. Sie kann nicht heimgehen und in Ruhe in ihrem Bett liegen und schlafen mit einem guten Gewissen. Es sind zu wenige Leute, sie kann sich nicht so um Bewohner kümmern, dieser Stress. Ab 15ten geht sie wieder. Habe schon mit der Chefin gesprochen.

Körperliche Schäden als Folge von Personalmangel

Diejenigen, die trotzdem bleiben, sind oder werden laut der Interviewten in der Regel nach kurzer Zeit abgestumpft und völlig teilnahmslos. Das führt natürlich auch zu körperlichen Schäden bei den Bewohner*innen:

Z: Teilweise wird ignoriert, der braucht Fußpflege. Der Nagel wächst schon ein. Ekelhaft. Weil aber so viel Stress rundherum ist, denkt man an solche Sachen gar nicht mehr, die aber so wichtig sind. Eine alte Frau braucht die Fußnägel gemacht, weil sie sonst nicht mehr ihn ihre Schuhe kommt und wund wird. Frau H. hatte in der Fußsohle ein Loch. Sie hat immer gesagt, sie hat Schmerzen, sie hat Schmerzen. Ich habe gesagt, schickt sie doch bitte zur Fußpflege. Antwort: Fußpflege kommt in einem Monat.

Unbequeme Mitarbeiter*innen bekommen Abmahnungen

Natürlich gibt es auch Pflegekräfte, die den Verhältnissen nicht einfach tatenlos gegenüber stehen wollen. Doch auf Beschwerden und Verbesserungsversuche folgen häufig Abmahnungen.

Y: Ich habe 19 Ermahnungen bekommen, nur weil ich sage, fehlt das, das. Essen ist am Arsch. Als Beweis, Essen ist am Arsch, habe ich Tablett vorbereitet, bin Mittag zur Pflegedienstleitung gegangen und habe gesagt, bitte probieren Sie das. Nein, ich habe keinen Hunger. Nur kleinen Löffel. Hat dann doch probiert, Suppe war versalzen. Das ist normal. Sie hat gesagt, passiert. Ich habe gesagt, ich komme jeden Tag mit Tablett, dürfen Sie probieren, ob es nur ab und zu ist oder öfter oder öfter als öfter. Auf das habe ich Ermahnung bekommen. Ich soll mich nicht in die Angelegenheiten des Kochs mischen. Er mischt sich nicht in Angelegenheiten von Pflege. Kein Thema. Aber ich gehe ins Zimmer und ich muss wünschen ‚Guten Appetit‘. Und die Bewohner essen nicht, weil es nicht schmeckt.

Auch Z kann von mangelnder Fehlerkultur bis hin zu Mobbing als Antwort auf Beschwerden berichten:

Z: Die E. haben sie total fertig gemacht, weil die auch gesagt hat, das und das ist nicht in Ordnung. Am Schluss ist sie gegangen, weil sie gesagt hat, sie packt das psychisch nicht mehr.

Essen

Wir wollten Näheres zur Essensversorgung im Candis erfahren. Hier äußerten die Pflegekräfte mehrere Kritikpunkte. Es würden häufig Hauptgerichte angeboten, die den Bewohner*innen unbekannt seien, also nicht ihren biografischen Gewohnheiten entsprächen. Es sei, wie schon erwähnt, oft ungenießbar. Wenn es aber etwas gibt, was den Bewohnern schmeckt, gibt es immer zu wenig. Zudem seien die Beilagen immer dieselben. Offensichtlich ist wieder der Hauptgrund: Sparen zwecks Renditesteigerung.

Y: Vor zwei Jahren war 3,70 € für Essen, jetzt sind es nur noch 2,60 €. Pro Tag!

X: So eine kleine Schüssel Salat. Mehr Salat bekommen Kinder in Kindergarten.

Pflegekraft Z bemerkt zum Essen:

Z: Es gibt nur ein so Gemüse, das wird für Aufläufe, Suppen, für alles Mögliche genommen. Habe ich mal zur Wohnbereichsleitung gesagt, es ist immer das Gleiche. Die Leute wollen das nicht, die essen das nicht. Ja, hat sie gemeint, es gibt halt nur ein bestimmtes Budget. Es liegt immer am Geld, immer am Geld.

Gesundheit

Dass der allgemeine Gesundheitszustand nicht allzu gut sein kann, liegt nach dem Gesagten nahe. Wir befragen die Pflegekräfte nach der medizinischen Versorgung.

Kein Rettungsdienst, um Kosten zu sparen?

X: Das war gar nicht solange her, im November. Da komme ich zum Spätdienst. Da erzählt mir eine Schülerin als erstes, eine Kollegin ist kollabiert, die Fachkraft. Die Schülerin hat dann [in der Frühschicht, RaS] die Leitungsposition gehabt, weil es war sonst kein anderer da. Einer Bewohnerin ging es nicht gut. Die hat auch diese Sauerstoffbrille immer regelmäßig. Die Schülerin hat die Sauerstoffzufuhr gemessen, die lag unter 80. Sauerstoffzufuhr bei älteren Menschen mit Sauerstoffbrille soll bei mindestens 91 liegen. Darunter ist Erstickungsgefahr. Schülerin wollte Bereitschaftsarzt holen oder Hausarzt. Ihr wurde das verboten. Jetzt sei aber Sauerstoffzufuhr besser. Nach etwa 40 Minuten habe ich gemessen. Sauerstoffzufuhr lag bei 78. Da habe ich gesagt, ich hole jetzt den Bereitschaftsdienst, mir ist das egal. Notarzt ist gekommen und haben die Frau zwei Stunden beobachtet. Zu dieser Zeit waren die Intensivstationen schon überbelegt. Die Bewohnerin hat in dieser Zeit Morphin bekommen, zusätzlich zu ihrem Sauerstoff im Zimmer nochmal 3,5 Liter Sauerstoff. Und Natriumchlorid intravenös. Das hätte man alles vermeiden können, wenn man in der Frühschicht richtig reagiert hätte. Wenn die Pflegedienstleitung nicht wirtschaftlich gedacht hätte, weil diesen Rettungsdienst muss das Haus ja zahlen.

Pflegekraft Y ergänzt:

Y: Wenn Fachkraft ruft Krankenhaus, Notarzt, das Haus muss zahlen. Weniger, desto besser.

Medikamente statt Pflegekräfte

Wie nicht anders zu erwarten, wird offenbar der gravierende Pflegekräftemangel auch durch vermehrte Medikamentengaben, die die Bewohner*innen ruhig stellen sollen, ausgeglichen:

Z: Ja, hat es auch schon gegeben. Es hat Schwestern gegeben, die mittlerweile schon nicht mehr da sind, die haben gesagt, den Stress tue ich mir nicht an. Frau H. haben sie ruhig gestellt. Dann hält die ihre Klappe, die bewegt sich auch nicht mehr, schläft den ganzen Tag. Das wird dann als Bedarfsmedikament geschrieben, die war so unruhig, dass man halt einen Bedarf geben musste. Die Ärzte interessiert das nicht. Von denen aus können sie die den ganzen Tag unter Medikamente setzen. Die Ärzte mischen sich da Null ein.

Leitung

Wie bereits geschildert, scheint die Leitung des „Wohn- und Pflegezentrum Candis“, wie es aktuell heißt, diese geschilderten Missständen mindestens in Kauf zu nehmen, vor allem aus Kostengründen. Doch die interviewten Pflegekräfte sind noch weitere Dinge aufgefallen, die mit einer seriösen Einrichtungsleitung wohl kaum zu vereinbaren sind.

Der Trick mit den Fachkräfteschlüssel

Der Pflegeschlüssel gibt exakt vor, wieviele Fachkräfte einer bestimmten Richtung in einem Heim für wieviele Bewohner*innen angestellt sein müssen. Offensichtlich heißt das aber nicht, dass diejenige Fachkraft dann auch entsprechend ihrer Qualifikation bezahlt wird. Der Trick, Geld zu sparen und trotzdem den Fachkräfteschlüssel zu erfüllen, wird uns so geschildert:

X: Wissen Sie, wie in der Pflege der Personalschlüssel gerechnet wird? Kommt eine Fachkraft nach einer Ausschreibung und zeigt ihre Qualifikationen. Denn nach Qualifikationen möchte ich auch bezahlt werden. Umso höher Qualifikation, umso höher wird man bezahlt. Beim Candis läuft es anders. Die machen dir ein Bild, dass du glaubst, dass du nach deinen Qualifikationen bezahlt wirst. Aber du arbeitest nicht nach deiner Qualifikation. Ich habe mich beworben als Pflegefachkraft, habe aber schon in der Tasche die Urkunde als Wohnbereichsleitung. Habe das bei Bewerbungsgespräch vorgezeigt. Frau B. [Einrichtungsleitung, RaS]: Darf ich das bitte kopieren? Ja, natürlich, dürfen Sie. Weil ich möchte ja nach Qualifikation bezahlt werden. Was macht die Frau B.? Sie macht Folgendes: Ich werde nur als Pflegefachkraft bezahlt, meine Urkunde als Wohnbereichsleitung wird aber nach Füssen [Standort der Deutschlandzentrale des Betreibers Charleston, RaS] geschickt, um somit zu zeigen, der Personalschlüssel ist erfüllt.

Auch Z bestätigt dieses Vorgehen.

Z: Das war damals bei der S. so. Die Chefin hat ihr Zertifikat genommen, Fachkraft für Gerontopsychiatrie. Hat sie eingetragen, als ob sie da als volle Fachkraft arbeiten würde, aber sie war nur als Helferin angestellt. Hat das Geld für Gerontopsychiatrie nie gekriegt. Trotzdem wurde das so hingestellt, als ob S. schon mit ihrem Zertifikat hier arbeitet. Diese Stelle ist praktisch besetzt, wir haben eine Geronto.

Der Trick mit den Minusstunden

Und ein weiterer Trick wird uns geschildert. Diesmal offensichtlich zum Zweck, jederzeit die Beschäftigten zum Einspringen zwingen zu können.

Z: Du arbeitest 170 Stunden, als Lehrling darf ich gar nicht soviel arbeiten, aber dann hast du plötzlich Minus am Schluss. Wie kann das sein? Ich bin ja immer da. Das funktioniert so: Du hast monatlich 164 Stunden, 40-Stunden-Woche. Die teilen dich aber ein für 180. Am Ende des Monats hast du aber nicht die 180 Stunden gearbeitet, sondern wie ich 170. Also 10 Minusstunden. Dann können sie sagen, jetzt musst du das aber noch reinholen, dann kannst du doch gleich einspringen. Schon andere Pflegekräfte haben das angesprochen. Aber sie denken wohl, wir sind dumm und schnallen das nicht.

Kreativer Umgang mit Dokumentation und Dienstplänen

Jede Pflegekraft muss alles, was sie tut oder beobachtet, dokumentieren. Sie darf nichts vergessen, aber auch nichts hinzufügen. Anhand der Dokumentation kann geprüft werden, ob alles in einem Heim richtig läuft. Soweit die Theorie. In der Praxis aber ist die Dokumentation offenbar ein wunderbares Mittel, auch die schlimmsten Pflegemängel zu kaschieren.

Z: Die Dokumentation ist eine Katastrophe. Das wird nach Bedarf eingetragen. Wie könnt man das jetzt hinkriegen, dann tragen wir das halt so ein. (ironisch) Die Papiere stimmen.

Y: Wir lügen einfach. Schreibst du nicht, dann bekommst du Ärger. 14 Leute habe ich damals gehabt. Ich habe gesagt, Frau B., ich schaffe das nicht, das ist keine Pflege, das ist gefährliche Pflege. Sie: Was meinen Sie? Habe ich gesagt, rechnen Sie. Wieviele Stunden brauche ich, was soll ich schreiben? Sie: Ganz normal, das gemacht, das gemacht, das gemacht. Uhrzeit dürfen Sie Pi mal Daumen. Habe ich gesagt, mir läuft der Schweiß von der Nase, mein Schlüpfer ist nass. Sie: Sie sind verpflichtet das zu machen. Ich war komplett fertig. War bei Arzt, krankgemeldet. Wieder gekommen, Abmahnung. Aber ich mach das nicht, Überarbeitung. Muss ich ehrlich sein, Selbstschutz. Datei, dieser ganze Beweis, Trinkprotokolle, Essen, nicht gegessen, ist einfach gelogen. Natürlich versuchen wir alles zu machen. Ein Bewohner liegt im Bett, aber ich schaffe es nicht, ihn fünfmal zu lagern, sondern nur dreimal. Aber ich schreibe fünfmal.

Offensichtlich wird auf Überlastungsanzeigen keine Rücksicht genommen. Hauptsache, die Dokumentation stimmt. Praktisch ist auch, dass sich MDK und Heimaufsicht immer zwei Tage vorher anmelden. Zeit genug, so die Pflegekräfte, Dokumentation und Dienstpläne entsprechend anzupassen.

X: Dienstpläne werden ausgetauscht plötzlich. Ein Plakat hängt im Stationszimmer und auf diesem Plakat sind die Dienstpläne aller Mitarbeiter, so wie wir zur Arbeit kommen. Die offiziellen für den MDK, die liegen versteckt. Wenn der MDK gemeldet hat, dass die kommen, da hat die Wohnbereichsleitung sofort die Dienstpläne ausgetauscht. Weil auf diesem gearbeiteten Dienstplan, da sind Arbeitstage ununterbrochen bis über 12, 14 Tage. Und wenn das der MDK sieht, das geht nicht. Nach vier Tagen sollte man mindestens einen Tag frei haben. Der gearbeitete Dienstplan wird zusammengerollt und der für den MDK, der wird einfach hingehängt. Schön sauber, ohne Kritzikratzi, ohne Einspringen.

Y weiß folgende Geschichte erzählen:

Y: Vor drei Monaten war MDK bei uns, musste sich zwei Tage vorher anmelden. Und drei Schwestern haben zwei Nächte durchgearbeitet, haben Akten umgeändert. Haben geschlafen im Haus, haben Essen bekommen. Akten waren perfekt. Darum sind Noten im Internet über Candis von fünf möglichen bei drei oder vier.2 Kein Wunder!

Candis Bewohnerin verschmierte Fäkalien auf Oberschenkel

Da oft die Zeit fehlt, Inkontinenzmaterial rechtzeitig zu wechseln, kommt es immer wieder zu “Unfällen”, wie die Pflegekräfte des Candis es nennen. Bewohner*innen verschmieren die überlaufenden Fäkalien über Bett und Körper.

Von Thurn und Taxis zu Candis

Besonders interessant fanden wir, dass Y zuvor im Pflegeheim von Thurn und Taxis gearbeitet hatte. Wir wollten von dieser Pflegekraft abschließend wissen, wie sie den Wechsel erlebt hat und wie es den Kolleg*innen und den mit ihr gewechselten Bewohner*innen geht.

Y: Von Thurn und Taxis zu Candis war warme in sehr kalte Wasser. Ich vergesse nie diese Zeiten im Schloss. Wir waren 14 Kollegen, die wechselten. Jetzt sind wir nur noch zwei. Insgesamt sind 18 Bewohner gekommen. Im ersten Jahr sind ein paar verstorben, haben nicht geschafft diesen Umzug. Frau V. ist bis heute nicht …

Z: … ja, Frau V. sagt immer, am liebsten würde sie sterben …

Y: … warum bin ich dort nicht verstorben.

Hinweis: Die Interviews fanden Dezember 2021 und Januar 2022 statt. Zum Schutz der Pflegekräfte warteten wir mit der Veröffentlichung, bis alle Interviewten das Pflege- und Seniorenheim Candis verlassen hatten. Wir haben aber Kontakt zu einer Pflegeperson, die aktuell im Candis arbeitet. Sie versichert uns, dass sich nichts zum Positiven verändert hat. Lediglich die Qualität der Handtücher sei besser geworden …


1 Dazu die Verbraucherzentrale: „Kosten für Inkontinenzhilfen übernimmt üblicherweise die Krankenkasse. Sind Windeln oder anderes Inkontinenzmaterial allerdings medizinisch nicht notwendig, sondern werden zur Erleichterung der Pflege eingesetzt, muss das Heim die Kosten tragen.“ (https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/pflege-im-heim/hilfsmittel-im-pflegeheim-wer-ist-zustaendig-13924) Oft vereinbaren Pflegeheime mit den jeweiligen Krankenkassen der Bewohner*innen einen monatlichen Pauschalbetrag. Ist dieser verbraucht, muss das Pflegeheim die Kosten für die Einlagen begleichen. Offensichtlich versucht das Heim mit allen Mitteln, diese Kosten einzusparen.

2 Die Bewertung für Candis ist hier nachzulesen: https://navigatoren.aok.de/etl/public/quality/510933758-93055.pdf

Kommentare

  1. Anonymous

    hallo

  2. Anonym

    passiert hier in rechtlicher bzw vor allem strafrechtlichen Hinsicht was?

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