Kundgebungsreihe "Protestieren statt frieren!":
Selbstorganisation – Vergesellschaftung des Energiesektors – Vergesellschaften statt klatschen!

Dokumentation unserer Reden und eines Beitrags des Vereins demokratischer Ärzt*innen auf der Kundgebung “Protestieren statt frieren!” am 01.12.2022, Rathausplatz Regensburg.

Transparent der Anarchistischen Gruppe Regensburg

Selbstorganisation

Hier sind wir also wieder: mal wieder mitten in einer Krise. Oder besser gesagt: KriseN. Klimawandel, Kriege, Angriffe auf die Rechte von Frauen und LGBTQI-Personen, Energieknappheit, Lebensmittelteuerungen, Inflation. Eigentlich kennen wir das schon. Und dass das alles nun geballt kommt, war ja doch abzusehen.

Den Menschen, die es sich leisten können, fällt es wohl nicht schwer sich an die neuen Umstände anzupassen. Wenn Geld nicht das Problem ist, dann sind es Heizkosten und teurere Lebensmittel eben auch nicht wirklich. Immerhin lebt man hier ja nicht in einem Kriegsgebiet. “Kann man eh nichts machen”, ist die Devise.

Aber wir, die hier stehen, wir können uns nicht an alles anpassen. Diese täglichen Krisen bedrohen nicht unseren Luxus, sie bedrohen unsere Existenz, unsere Zukunft, unser Überleben an sich.

Zumindest mit all denen und für alle, die von den Umständen erdrückt werden, ist es an der Zeit, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die es tatsächlich schaffen kann Freiheit und Wohlstand für alle zu bringen, statt für eine privilegierte Oberschicht, die uns im Gegenzug Spartipps geben darf.

Aber wie soll das gehen? Woher sollen wir diese andere Gesellschaft nehmen? Wir wissen um die Ursachen der Krisen: Sie heißen Kapitalismus, Staat, Patriarchat. Sie zeigen sich in unterschiedlichen Formen der Benachteiligung und Diskriminierung. Hier werden Menschen nach Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt unterteilt. Hier steht der Schutz von Natur und Mensch hinter Gewinnmaximierung und Profitstreben an. Menschen werden nach ihren Nationen unterteilt und der weiße Mann ist und bleibt die Norm. In einer solchen Welt stellt sich nicht die Frage, ob Krisen geschehen, sondern wann die nächste dazukommt. Menschen müssen nicht einmal sonderlich links denken, um diese Ursachen zu erkennen. Aber wie sollen wir auf die Zustände reagieren? Der Anarchismus gibt darauf eine Antwort: Selbstorganisierung und Selbstverwaltung.

Wir verstehen darunter nicht selbstorganisierte rechte Schlägertrupps. Auch nicht gemeint sind selbstorganisierte Querdenken-Strukturen mit ihren starken Führungspersönlichkeiten. Und auch nicht sogenannte selbstverwaltete Räume, die von Parteien und ihren Hierarchien gesteuert werden.

Selbstorganisation und Selbstverwaltung bedeutet für uns, dass alle Menschen mitentscheiden, die von den Entscheidungen betroffen sind. Nationalität, Geschlecht, Alter, körperlicher Zustand, Hautfarbe und Religion spielen für die Selbstverwaltung keine Rolle.

Alle, die betroffen sind, kommen zusammen und beraten sich darüber, wie vorgegangen wird. Zum eine wird von vielen Seiten auf ein Problem geschaut, zum anderen können Einzelne so leichter hinter den Entscheidungen stehen. Grundsätzlich ist das das wohl einfachste und effektivste Vorgehen. Egal ob im Betrieb zur Regelung der Produktion oder überregional zum Beispiel zur Sicherstellung der Gasversorgung im Winter. Die, die es produzieren und verbrauchen, wissen zusammen am besten wann was passieren muss. Schöner Gedanke, wenn man sich überlegt, dass dann einiges an Arbeitszeit im Marketing und Management wegbricht… das wird in unserem Morgen von allen, die es betrifft, gemeinsam übernommen.

Beispiele, dass diese Art des Lebens und des Zusammenlebens als eine tatsächliche Gesellschaft auch heute funktioniert, lebt man uns anderswo auf der Welt vor. Wer sich dafür interessiert wird auch ohne, dass ich hier jetzt alles vorkaue, genug dazu finden. In Europa sind es die Stadtviertel in Athen, die immer wieder Aufsehen erregen, hier wäre der Aufschrei kaum vorzustellen. Noch weit erfolgreicher sind hingegen zum Beispiel die Zapatistas in Mexiko oder die kurdischen Gebiete, allen voran Rojava. Sie dienen uns heute als Vorbilder, nicht nur bei ihren Möglichkeiten der Selbstorganisation und Selbstverwaltung, sondern auch in ihrem Kampfgeist.

Vergesellschaftung des Energiesektors

Das Leben wird immer teurer und dabei trifft es wie immer arme Menschen besonders. Denn die gegenwärtige Inflation kommt vor allem von den Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie. Neben Wohnen sind das die Bereiche, für die Menschen mit geringem Einkommen ihr gesamtes Geld ausgeben. Für den Grundbedarf.

Wenn die Regierung jetzt endlich konkrete Gesetzentwürfe für die Deckelung von zu hohen Energiepreisen vorlegt, dann tut sie das nicht, weil sie sich plötzlich um arme Menschen sorgt, sondern weil sie um Industrie und Handwerk fürchtet. Dementsprechend werden da die Preise auch deutlich stärker entlastet als für private Haushalte. Die Übernahme der Dezember Gasrechnungen und die Deckelung von 80 % des Verbrauches bei 12 ct/kwh ab Februar oder März nehmen nur die Spitze unserer horrenden Rechnungen. Außerdem ist diese Regelung sozial nicht gerecht, da Menschen, die viel haben und viel verbrauchen, anteilig mehr entlastet werden. Und Menschen, die letzten Winter schon gespart und gefroren haben, können keine weiteren 20 % ihrer Heizung einsparen.

Zudem wird nichts unternommen, um von fossilen Energieträgern loszukommen. Stattdessen wird Geld in die Gewinnung von verflüssigtem Frackinggas, in den Abbau von Kohle und in den Ausbau von Individualverkehr gesteckt.

Wenn wir heute von Selbstorganisation sprechen, dann müssen wir auch von der Vergesellschaftung von Energie reden. Damit meinen wir keine Verstaatlichung, sondern eine basisdemokratische und ökologische Übernahme des Energiebetriebs. Die Verbraucher*innen müssen gemeinsam mit den Produktionsbetrieben über die Produktion bestimmen. Die Betriebe müssen dabei von den Arbeiter*innen übernommen und verwaltet werden, so dass sie selbst über Arbeitsumstände und Produktionsprozesse entscheiden können. Es geht also um eine Übernahme des Energiesektors als Kollektivgut in Alternative zu Kapital und Staat. Damit ist diese Forderung ganz klar eine anarchistische, eine emanzipatorische Forderung. Die Vergesellschaftung von Energie muss einhergehen mit einer radikalen Abkehr von fossilen Energien und einer gerechten Verteilung von Energie. Natürlich muss der Energieverbrauch reduziert werden. Dabei dürfen aber nicht die zum Sparen genötigt werden, die sowieso schon wenig haben und verbrauchen. Nein, es braucht eine basisdemokratische gesamtgesellschaftliche Planung für was Energie tatsächlich gebraucht wird. Für den alltäglichen Bedarf muss Energie zur Verfügung stehen. Aber dort, wo es über die Grundbedürfnisse hinaus geht, wo es um Kapitalinteressen geht, da kann massiv gespart werden. Wenn wir also von Vergesellschaftung des Energiesektors reden, dann ist das nicht innerhalb des Kapitalismus möglich. Denn gerechte Energieverteilung ist nicht im Sinne von Markt und Profit und wird auch nicht freiwillig aufgegeben werden.

Hier unterscheidet sich die Forderung auch von dem Wohnbereich, wo die Initiative „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ in Berlin den Volksentscheid gewonnen hat und die Debatte um Vergesellschaftung, um Enteignung, vorangebracht hat. Auch wenn der politische Machtbetrieb versucht, durch endlose Prüfungen die Umsetzung zu verzögern und letztendlich doch zu verhindern, haben sie Großes geleistet. Sie haben gezeigt, wie linke Bewegungen groß werden können und wieviele Menschen ein gerechtes und kollektives Leben wünschen.

In der Forderung nach Vergesellschaftung von Energie ist jedoch ganz klar der Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise, mit der Gesellschaftsform enthalten. Denn der Energiesektor ist der Sektor, auf den die Produktion angewiesen ist. Auch wenn das eine schwierige Aufgabe ist, sollte uns das nicht davon abhalten, konsequent die Vergesellschaftung zu fordern. So viele Menschen erleben momentan die Ungerechtigkeit, die zum kapitalistischen System gehört, vor allem anhand der Energiepreise. Hier steckt eine große Chance auf einen Bruch!

Vergesellschaftung ist eine alte Forderung der Arbeiter*innenbewegung. Nach der Novemberrevolution 1918 wurde von der Nationalversammlung Vergesellschaftung in der Weimarer Reichsverfassung festgeschrieben. Schon damals war nicht nur eine Verstaatlichung gemeint, sondern auch Mitsprache- und Kontrollrechte der Beschäftigten. Nach dem 2. Weltkrieg war das Thema Vergesellschaftung wieder aktuell. Viele Menschen hatten erkannt, dass die Großindustriellen unmittelbar am Aufstieg des Nazifaschismus beteiligt waren und für einen demokratischen Neuanfang entmachtet werden müssen. In verschiedenen Bundesländern wurde in Volksabstimmungen für die Sozialisierung von Betrieben gestimmt und in den Landesverfassungen aufgenommen. Wo es zu Abstimmungen gekommen ist, gab es immer die Zustimmung einer breiten Mehrheit. Gescheitert ist die Umsetzung bislang immer am fehlenden Willen der politischen Machthaber – so wie aktuell in Berlin. Um so stärker muss unser politischer Wille sein!

Vergesellschaften statt klatschen!

Vielen Dank für die Einladung, als Mitglied des Vereins demokratischer Ärzt*innen einen Redebeitrag beisteuern zu dürfen.

Jeden viel zu frühen Morgen, wenn ich vom kalten Nebel in die warme Welt meines Krankenhauses eintauche, fühle ich mich willkommen und sicher. Bei aller Skepsis gegenüber Lohnarbeit muss ich gestehen: Hier gehöre ich her. Auch die Zusammenarbeit in unserem Team läuft meistens gut und solidarisch ab.

Gleichzeitig weiß ich, dass ich mich bereits in der Umkleidekabine beeilen muss – und mein Stresslevel beginnt zu steigen. In Gedanken gehe ich die nächsten Schritte durch: So viele Minuten habe ich fürs Einlesen in die neuen Patient*innen, dann eine Viertelstunde für die Kurvenvisite, so viel Zeit fürs Blutabnehmen – hoffentlich kommt kein Notfall dazwischen –, schnell noch drei Patient*innen entlassen und zwei aufnehmen und überhaupt, warum komme ich nie pünktlich zur Visite? Dann sehen mich die Patient*innen vielleicht ganze zwei Minuten – und das ist für manche das Highlight des Tages! Und ich denke mir, was für ein peinlicher Mist das eigentlich ist, hier werde ich niemandem gerecht; aber schon muss ich weiter rennen, renne eigentlich die ganze Zeit bzw. der Zeit hinterher.

Denn es ist leider wahr: Es gibt eine unausgesprochene Stückzahl pro Zeiteinheit, die ich abfertigen muss. Nur, dass es sich hier um menschliche Bedürfnisse handelt. Und während das Fließband an mir vorbeizieht, frage ich mich: Wann wurde eigentlich entschieden, Gesundheit zu einer Ware zu machen? Es gäbe viele Geschichten, die man von einer 70-Stunden-Woche oder vom Leiden und Sterben auf einer Corona-Station erzählen könnte. Es soll heute allerdings nicht nur um die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus gehen. Die Liste der Missstände unseres Gesundheitssystems ist schließlich ziemlich lang: auf der einen Seite Personalmangel, Überstunden, Verlust von Krankenhausbetten, Outsourcing und Lohndumping, auf der anderen Seite steigende Renditen bei privaten Häusern. Aber auch in den kommunalen und freigemeinnützigen Kliniken sieht es beileibe nicht viel besser aus: Im Zuge der Neoliberalisierung des Gesundheitssektors wurden auch sie gezwungen, sich gänzlich nach ökonomischen Kriterien auszurichten – somit zu Unternehmen zu werden, die Gewinne erwirtschaften müssen. Darüber hinaus wurde die Krankenhausfinanzierung abgeändert: Mittels Fallkostenpauschalen (DRGs) wird seitdem gewinn- und nicht bedarfsorientiert bemessen, was an medizinischen Diensten geleistet wird. Dies erlaubt, die Fallzahlen zu erhöhen und Profite zu erzielen. Vor allem eins gelingt dadurch jedoch – es wird gespart am Nötigsten, mit schlimmen Folgen für die Menschen und ihre Gesundheit. Der Druck im System ist auch deswegen zu hoch, weil ein Teil der Erlöse aus Fallpauschalen für Krankenhausinvestitionen zweckentfremdet werden muss. Die Investitionsmittel der öffentlichen Hand für Krankenhäuser betragen nämlich nach wie vor nur rund die Hälfte des Notwendigen.

Blickt man 50 Jahre zurück in die westdeutsche Geschichte, findet man spannende Debatten um das sogenannte „Gespenst des klassenlosen Krankenhauses“, welches damals umging und dem Kapital einen ordentlichen Schrecken einjagte. Tatsächlich wurde dieses in Gestalt des Klassenlosen Krankenhauses in Neustadt am Rübenberge 1971 Realität: Privatpatient*innen wurden in Mehrbettzimmern behandelt, Einzelzimmer denjenigen vorbehalten, die ein besonderes Ruhebedürfnis hatten. Die Mehreinnahmen durch die Behandlung der Privatpatient*innen kamen der gesamten Abteilung und nicht nur dem Chefarzt zugute. Aber auch im Miteinander der Berufsgruppen wurde das Arbeiten auf gegenseitiger Augenhöhe, also eine Form der Demokratisierung, vorangetrieben.

Als Verein demokratischer Ärzt*innen und im Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“ haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie gegen die Kommerzialisierung anzugehen wäre. Dazu standen wir auch im Kontakt mit der Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Aber kann man das Gesundheitswesen so einfach vom Markt nehmen wie Immobilien? Uns wurde klar, dass der Wunsch nach Rückkehr zur Bedarfsorientierung untrennbar mit der demokratischen Planung der Krankenhausstruktur verbunden ist. Wir sprechen also von einem Phänomen, das über die Enteignung privater Kliniken und deren Rekommunalisierung hinaus geht.

Die Krankenhausstruktur bietet etliche Stellschrauben, an denen Veränderung herbeigeführt werden könnte. Dies ist keineswegs utopisch; in der Corona-Krise haben zunehmend auch Politiker*innen und mächtige Akteur*innen im Gesundheitswesen die skandalösen Auswirkungen der Ökonomisierung kritisiert und seine Reform oder auch eine komplette Umsteuerung gefordert. Neoliberale Heilsversprechen haben ihren Glanz verloren. Es wächst das Bewusstsein, dass Daseinsvorsorge in öffentliche Verantwortung gehört. Krankenhäuser sind Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Ihre Planung, Steuerung und Finanzierung muss dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Eine Vergesellschaftung der Krankenhäuser ließe uns ahnen, was es bedeutet, die Verhältnisse, in den wir leben und arbeiten, zu heilen.


Quellen

– Homepage vom Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“ https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/1

– Aufruf zur Kampagne „Vergesellschaften statt Klatschen“ der Kritischen Mediziner*innen Halle (Saale), 29.04.2020 https://blogs.urz.uni-halle.de/sintoma/2020/04/vergesellschaften-statt-klatschen/

– Sozialistische Zeitung Nr. 01/2020, „Wie holen wir uns die Krankenhäuser zurück? Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte diskutiert die Vergesellschaftung der Krankenhäuser“ https://www.sozonline.de/2020/01/wie-holen-wir-uns-die-krankenhaeuser-zurueck/

– Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 04/2021, „Klassenloses Krankenhaus – Stefan Schoppengerd berichtet über den Workshop zu den praktischen Erfahrungen in Neustadt am Rübenberge“ http://gbp.vdaeae.de/index.php/192-2021/2021-4/1382-gbp-4-2021-schoppengerd

– Rosa Luxemburg Stiftung, 05/2021, „Klinikum zurück in die öffentliche Hand? Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum“ https://www.rosalux.de/publikation/id/44201/klinikum-zurueck-in-die-oeffentliche-hand

– Luxemburg, Gesellschaftsanalyse und gesellschaftliche Praxis, 02/2022, „Mit Gesundheit zockt man nicht! Warum es nicht reicht, die Krankenhäuser in öffentliche Hand zu nehmen“ https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/mit-gesundheit-zockt-man-nicht/

– Vortrag von Kalle Kunkel am 10.05.2020 auf der Ökosozialistischen Konferenz der ISO: „Das Gesundheitswesen vom Markt nehmen“ https://www.youtube.com/watch?v=-QP-YUyzxpE

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