Rede von ANA anlässlich der Gedenkkundgebung zur Reichspogromnacht in Regensburg:
9. November 1938

Ehemalige Synagoge Regensburg

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir erinnern uns heute an den 9. November 1938, einen Tag der auf Grund seiner flächendeckenden Grausamkeit als Reichspogromnacht in die Geschichte einging:
Überall in Deutschland wurden Jüdinnen und Juden verfolgt und vertrieben, beraubt, misshandelt, getötet.

In Regensburg wurde nicht gezögert und man ist besonders engagiert zur Tat geschritten: Auf Befehl von Gauleiter Fritz Wächtler steckte Feuerwehr und nationalsozialistisches Kraftfahrkorps die Synagoge in Brand. Der SS-Oberbürgermeister Otto Schottenheim sprach von der Zerstörung des “letzten Schandflecks” in Regensburg und verbot die Wiedererrichtung.

Außer uns an diese Fakten zu erinnern, dürfen wir auch nie vergessen, was systematische Ausgrenzung, Flucht und Vertreibung für die betroffenen heißt: Wenn staatliche Institutionen, Feuerwehr, Polizei, die Bevölkerung zusammenwirken, wenn einem geballte Gewalt und Hass aus allen Gesellschaftsbereichen entgegenschlägt und ihre zerstörerische Wirkung zeigen. Wenn wie beim sogenannten “Auszug der Juden” am nächsten Tag Juden und Jüdinnen durch Regensburg getrieben und dabei bespuckt, beschimpft und verhöhnt werden, dann wird für alle sichtbar gemacht: Ihr seid hier nicht gewollt.

Wenn wir uns also heute an die Nacht vom 9. November 1938 erinnern, dürfen wir nicht vergessen: Es war nicht nur eine Nacht. Es war ein vorläufiger Höhepunkt in einer ganzen Folge von Ausgrenzungen und Pogromen, über viele Jahre – und Jahrhunderte – hinweg.

Das zeigt auch der Text “Antisemitismus und Judenpogrome” von Rudolf Rocker, aus dem ich jetzt Auszüge vorlesen möchte. Rudolf Rocker war Anarchosyndikalist, Autor und Verleger jiddischer Zeitungen wie “Das Freie Wort” und “Arbeiterfreund”. Er musste deshalb selbst gleich zwei mal aus Deutschland fliehen: 1893 und 1933. Der folgende Text wurde 1923 verfasst, d.h. 15 Jahre vor der Reichspogromnacht 1938 und vor dem Hintergrund des Pogroms gegen Jüdinnen und Juden im Berliner Scheunenviertel und der Vertreibung der sog. Ostjuden aus Bayern.

“Das Judenpogrom im alten Berliner Scheunenviertel spricht eine gar beredte Sprache und zeigt uns deutlich, wohin der Weg geht, den die Koryphäen der nationalistischen Reaktion uns führen wollen, um „Deutschland vom Untergang zu retten“. Was sich in früheren Zeiten als Antisemitismus hier breit machte, war im Grunde genommen nicht mehr wie eine politische Hanswurstiade minderwertiger Qualität, die von den breiten Massen des Volkes wohl kaum ernst genommen wurde. Verärgerte kleine Geschäftsleute, verschuldete Kleinbauern, unreife Jünglinge im Kaufmannsgewerbe mit der vorschriftsmäßigen „nationalen Gesinnung“, „rassenreine“ preußische Krautjunker und großmäulige Korpsstudenten, deren teutscher Idealismus jeden Tag mit dem nötigen Quantum von Bierhefe aufgefrischt werden musste.

Was aber vergangene Woche in Berlin in Erscheinung trat, war etwas anderes, und es wäre töricht, diese Vorgänge in ihrer Tragweite unterschätzen zu wollen. Hier waren verborgene Kräfte an der Arbeit, die durchaus nicht harmlos sind, sondern eine furchtbare Gefahr für die allernächste Zukunft dieses Landes bedeuten. Die hundert und hundertfünfzig arme Schlucker, welche die Polizei bei den Plünderungen festnahm und als „Rädelsführer“ hinter Schloß und Riegel brachte, sind allerdings verhältnismäßig harmlose Leute im Vergleich mit jenen dunklen Elementen der schwärzesten Reaktion, die seit Jahren das Feuer schürten, jedoch zu feige sind, sich in den Vordergrund der Ereignisse zu wagen und die Konsequenzen ihrer gewissenlosen und verlogenen Hetze anderen überlassen.

Der Pogrom-Antisemitismus, mit dem wir es heute in Deutschland zu tun haben, ist nur der Schrittmacher der faschistischen Reaktion. Die sogenannten „völkischen Verbände“, welche das Hakenkreuz als Symbol ihres judenfeindlichen „Germanentums“ aufgepflanzt haben, werden von den Agrariern und von namhaften Schwerindustriellen materiell gefördert und unterstützt, um die Empörung des darbenden Volkes in falsche Kanäle zu leiten und seine Aufmerksamkeit von den eigentlichen Ursachen seines namenlosen Elends abzulenken.

Und dieselben Klassen, an deren Fingern die Blutschuld des Krieges klebt, deren Reichtümer sich ins Ungemessene vergrößern, während die große Masse des werktätigen Volkes in Deutschland das Letzte verlor, sie sind es, welche die völkischen Geheimbünde mit ihrem Gelde speisen und deren antisemitische Propaganda und Pogromhetze direkt unterstützen.”

Dieser Text bringt gut die Kontinuität der Verfolgung jüdischen Lebens, den unaufhörlichen Missbrauch als Sündenböcke durch die Mächtigen, Kapitalisten, und Faschisten zum Ausdruck und macht deutlich wie aus zunächst scheinbar harmlosen “Hanswurstiaden” und Feindseligkeiten handfeste Gewalt und Verfolgung entsteht.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus haben sich überlebende WiderstandskämpferInnen und Verfolgte im Verband der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) zusammengeschlossen. Die VVN-BdA arbeitet unermüdlich und bis heute daran aus der Vergangenheit zu lernen und faschistische Strukturen und Tendenzen aufzudecken und zu bekämpfen. Es ist schade, dass wir hier heute keine Rede von ihnen hören können.

Als Anarchist denke ich: Wir müssen erinnern, dürfen nicht vergessen und wir müssen ein wachsames Auge auf die Ausgrenzung von Menschen haben, und auch auf autoritäre und staatliche Strukturen, die diese Ausgrenzung institutionalisieren und ihr Kraft verleihen. Es war in Regensburg die Feuerwehr, die den Befehl ausgeführt hat und die Synagoge in Brand gesteckt hat. Es war die Polizei, die Gestapo und SS, die die Opfer durch die Stadt gequält hat. Es war die breite Bevölkerung, unsere Groß- und Urgroßeltern, die zugesehen und mitgemacht haben. Antifaschismus bedeutet für uns mehr als gegen Rechte zu demonstrieren. Der Autoritarismus von Staat, Polizei und Gesellschaft ermöglicht erst die strukturelle und mörderische Gewalt, der damals wie heute Menschen ausgesetzt sind. Für uns als AnarchistInnen beginnt der Kampf gegen den Faschismus mit dem Kampf gegen autoritäre Strukturen. Wir kämpfen für eine herrschaftsfreie Gesellschaft, denn wir wissen: Erst dann haben wir den Faschismus endgültig überwunden.

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